Samstag, 23. November 2013

Social-Media-Skepsis bremst Innovation in den Unternehmen

Netzpolitik ist ein Thema, das dem Bürger nichts sagt und den meisten Politikern auch nicht. Niemand fühlt sich berufen, die komplizierte Materie auch nur so zu formulieren, dass sie verständlich wird. Das sollte sich ändern, denn die verbreitete Ignoranz gegenüber Social Media bremst die Entwicklung von Social Business und Industrie 4.0 in den Unternehmen – das könnte sich böse rächen.

„Facebook-Nutzer fühlen sich einsam und frustriert“, titelte Focus. „Nutzer, die häufig im Netzwerk unterwegs und, werden schnell dick und machen mehr Schulden mit ihren Kreditkarten als normale Konsumenten“, so eine Meldung, mit der Forscher einer völlig unbekannten Universität in der amerikanischen Provinz hierzulande zu kurzlebiger Publicity kam. Wie seriös solche Meldungen sind, fragt kaum ein Journalist, passt sie doch vorzüglich in sein eigenes Weltbild. Social Media ist Teufelszeug, das journalistisches Selbstverständnis ankratzt und auch noch die Arbeitsplätze in den Redaktionen bedroht. Menschlich verständlich also, dass der Focus der Medien mit den Stichworten unzureichender Datenschutz, NSA-Spionage, illegale Downloads, Mobbing, Abzocke und Betrügereien im Netz ziemlich abschließend beschrieben ist.

Bei der Kundschaft kommt das gut an, denn mit den immer noch als neu geltenden Kommunikationswegen fremdeln die Deutschen. Bei der Internetnutzung ganz generell landet Deutschland noch auf einigermaßen vorderen Plätzen der fast 200 Staaten dieser Welt, auch wenn selbst einige Länder, die wir als Entwicklungsländer sehen, auf dem einen oder anderen Gebiet vorbeiziehen. Trübselig kann stimmen, was die Leute mit ihrem inzwischen meist vorhandenen Breitbandanschluss machen. Sie kaufen bei Amazon, überweisen online und schreiben E-Mails. 46 Prozent verweigern sich nach eigener Aussage dem sozialen Web. 42 Prozent der Internetnutzer verfassen nach einer Eurostat-Erhebung Mitteilungen in sozialen Netzwerken, beim europäischen Spitzenreiter Portugal liegt der Anteil bei 75 Prozent. Deutschland bildet zusammen mit Tschechien und Frankreich, wo 35 beziehungsweise 40 Prozent der Surfer auf Facebook, Google+, Twitter und Co. aktiv sind, das Schlusslicht bei der Nutzung der sozialen Medien.

Kulturell bedingtes Defizit

Skepsis und Ablehnung ist nicht Schuld der Medien. Die Deutschen eint so etwas wie eine kulturell geprägte kollektive Wahrnehmung, Journalisten unterscheiden sich da kaum von Lehrern, Maschinenbauingenieuren oder Juristen. Wenn Zeitgenossen, die als Intellektuelle gelten, über den Tsunami der Belanglosigkeiten in den Sozialen Netzwerken salbadern, mit dem sie jede Berührung meiden, müssen sie nicht fürchten, sich ob ihrer Ignoranz zu blamieren. Die Unwissenheit reicht bis dorthin, wo angeblich die Zukunft gemacht wird – in die Politik. Man könnte schmunzeln darüber, dass Volksvertreter, die mit netzaffinen Bürgern über entsprechende Wege kommunizieren, immer noch Paradiesvogelstatus haben. Leider ist es aber auch Indiz dafür, dass die politische Klasse die neue technische Revolution nicht richtig erfasst hat.

Die netzpolitische Bilanz der letzten Bundesregierung gilt zu recht als Desaster. In den vier Jahren, in denen SocialMedia-Plattformen wie Facebook und Twitter ihren Durchbruch erlebten, mit Tablets und Smartphones das mobile Internet zum Massenmarkt wurde, das Streaming seinen Platz im digitalen Medienangebot eroberte, Cloud Computing und Big Data zu großen wirtschaftlichen wie politischen Schlagworten wurden – in diesen vier Jahren gelang hierzulande nur die Durchsetzung des „weltweit sinnlosesten Internetgesetzes“ (Sascha Lobo), des Leistungsschutzrechts. Bei der Infrastruktur ist Deutschland weiter zurückgefallen. Andere Länder haben in dieser Zeit z. B. mit Milliardenförderung die Glasfasernetze vorangebracht, in der Erkenntnis, dass die Netzbetreiber das nur schaffen, wenn sie sich auf so schädliche Weise wie durch Aufkündigung der Netzneutralität zusätzliche Einnahmen verschaffen.

Infrastruktur kümmert vor sich hin

Die Politik bewegt sich in Schlagworten und lässt die Infrastruktur vor sich hin kümmern. Bei der Breitbandvernetzung landet Deutschland nach dem Jahresreport der Internationalen Fernmeldeunion gerade noch unter den ersten zehn, beim mobilen Internet aber mit Platz 40 weit abgeschlagen noch hinter Kasachstan. Die sich anbahnende Große Koalition verspricht ein Programm, um die Breitbandvernetzung voranzubringen – die angepeilte Versorgung mit 50 Mbit/s bis 2018 entspricht schon jetzt nicht mehr dem Stand der Dinge und zur Finanzierung gibt es kein Wort. Die einmal angepeilte Summe von einer Milliarde pro Jahr, ohnehin viel zu zaghaft, ist aus den Koalitionsplänen verschwunden.
Wie passt das zu Sätzen wie diesen? „Deutschland muss Vorreiter der Industrie 4.0 sein, denn wir bauen auf eine starke Industrie mit breiter Wertschöpfung“, sagt Christiane Krajewski, vor der Wahl Mitglied im Kompetenzteam von Peer Steinbrück. „Deutschland wird dadurch seine Führungsrolle im produzierenden Gewerbe behaupten und ausbauen“, heißt es in einem gemeinsamen Antrag der Fraktionen von CDU/CSU und FDP vom Juni 2013. Die deutsche Ausrüsterindustrie soll weiter als Leitanbieter für intelligente Produktionstechnologien den Weltmarkt anführen. Als entscheidendes Stichwort dafür gilt in der Politik der Begriff „Industrie 4.0“: Sie gilt als Ausgangspunkt für die Schaffung neuer intelligenter Produkte, die „u.a. durch die Verknüpfung mit wissensintensiven Dienstleistungen mit hohem Mehrwert und hoher Attraktivität für Kunden und Nutzer verbunden sind. Ziel ist es, neue Leitmärkte zu gestalten und zu bedienen“. Das Thema Social Media taucht allenfalls in negativen Zusammenhängen auf, mit Industrie 4.0 bringt man das gar nicht zusammen. Offenbar operieren Menschen, die eigentlich steuern und gestalten sollen, mit nur halbwegs verstandenen, für den Bürger unverständlichen Schlagworten.

Industrie 4.0 rein technisch begriffen

Der Begriff Industrie 4.0 ist Chiffre für die vierte industrielle Revolution, die bereits ihren Lauf nimmt. Eine Reihe technischer Entwicklungen treffen mit heftigen Auswirkungen zusammen: Im sogenannten Internet der Dinge werden reale Produkte oder Produktionsverfahren per Netzwerk verbunden und tauschen eigenständig Daten aus. Dramatisch wird dies dank eines Entwicklungssprungs der Sensorik. Immer mehr und intelligentere „Fühler“ häufen Datenberge auf über den Zustand einer Maschine und ihre Umwelt. Intelligent bedeutet: Die Sensoren übermitteln nicht nur elektronische Signale, sie können miteinander kommunizieren, aus der Fülle der Daten Schlussfolgerungen ziehen und an zentrale Steuereinheiten weiterreichen. Fertigungsmaschinen können so benötigte z. B. Materialien selbstständig aus dem Lager anfordern und ggf. über das Internet beim Zulieferer nachordern.

Dabei fallen so unvorstellbare Datenmengen an, dass sie mit herkömmlichen relationalen Datenbanken und Statistik- und Visualisierungsprogrammen unmöglich zu erfassen, zu speichern und auszuwerten sind. Ein weiteres Stichwort heißt daher „Big Data“: die Analyse der Datentsunamis nach neuartigen mathematischen Verfahren, mit denen sich sich Berechnungen parallelisieren und auf mehrere Rechner verteilen lassen. Nur so können mit atemberaubender Geschwindigkeit Schlussfolgerungen von höchst praktischer Bedeutung generiert werden. Bei zeitkritischen Prozessen wie der Betrugserkennung in Echtzeit oder der Sofortvermarktung über mehrere Kanäle hinweg braucht es die Echtzeitanalyse, um einen nachweisbaren Vorteil für das Unternehmen zu erzielen. Unternehmen auf der ganzen Welt können durch Big Data den Service für ihre Kunden verbessern und die betrieblichen Abläufe optimieren.

Alles dies zusammen führt zu einer neuen Stufe der Organisation und Steuerung der Wertschöpfungskette über den Produktlebenszyklus hinweg - von Konzeption und Design des Produkts über die Fertigung bis hin zu Kundendienst und Rücknahme bzw. Recycling. Den Unternehmen erwachsen ganz neue Möglichkeiten, ihre Tätigkeit zu optimieren – unter Kosten- und Effizienzgesichtspunkt, aber auch im Sinne von mehr Flexibilität. Blitzschnell lassen sich Fertigungen einer schwankenden Nachfrage anpassen, Produkte und Dienstleistungen mühelos auf immer individuellere Kundenwünschen einstellen bis hin zu einer industriellen Einzelanfertigung.

Ohne menschliche Arbeit geht nichts

Ein Thema also, bei dem Wirtschaftslenker und Politiker gerne ins Schwärmen kommen. Leider vergessen viele ein unverzichtbares Element: Wenn Maschinen kommunizieren und vieles eigenständig regeln, wird der Mensch nicht überflüssig. Industrie 4.0 wird nicht die menschenleere Fabrik bringen. Die viel beschworenen Cyber-Physische-Systeme (CPS) verbinden die virtuelle Cyberwelt nicht nur mit Objekten in der real-physischen Welt, sondern in letzter Instanz mit Menschen, ohne deren Richtungsentscheidungen das Zusammenspiel von Maschinen und Anlagen jedenfalls noch nicht vorstellbar ist. Erst diese Verbindung schafft jene dynamischen, echtzeitoptimierten und sich selbst organisierenden Wertschöpfungsnetzwerke, die sich nach Kosten, Verfügbarkeit und Ressourcenverbrauch optimieren lassen.

Produktionsarbeit wird auch in Zukunft von menschlicher Arbeit geprägt sein. Diese kann aber nicht in herkömmlicher Weise über hierarchisch gestaffelte Befehlsketten eingebunden werden - das wäre viel zu langsam und mit viel Reibungsverlust verbunden. Wenn Social-Media-Funktionalitäten durchgängig für kooperative betriebliche Entscheidungen genutzt werden, können – besser gesagt: müssen sich interaktive Führungsmethoden entwickeln, die den Mehrwert mobiler Informations- und Kommunikationstechnik erschließen. Nur so werden die menschlicher Sinneswahrnehmungen ausgeschöpft, die den Informationsfluss technischer Sensoren durch Informationen aus dem Umfeld ergänzen. Und nur auf dieser Grundlage ist das „PatchWork“ als neuer Form hochflexibler, zeitlich, räumlich und inhaltlich verteilter Arbeit denkbar, das Multi-Job-Verhältnisse, eine sinnvolle Nutzung von Leerlaufzeiten und bedarfsgerechte „Arbeitszeit-Patches“ ermöglicht.

Neue Formen von Kommunikation und Kooperation

„Der Einsatz von unternehmenseigener Social Software“, heißt es im BVDW-Leitfaden Enterprise 2.01 dient vor allem der Schaffung dialogischer, transparenter und inklusiver Prozesse, die eine Organisations- und Führungskultur ermöglichen, mit deren Hilfe bisher verborgene Effizienz-, Wissens- und Innovations­ressourcen zur Steigerung der Unternehmensperformance nutzbar gemacht werden können.“ Social Business erhöhe die Produktivität und Effizienz der Mitarbeiter und es beschleunige Innovationen, heißt es in einem Untersuchungsbericht des IBM Institute for Business Value. Das bestätigt auch eine Studie von McKinsey, wonach sich durch Social Business Produktivitätsverbesserungen von 3 bis 11 Prozent ergeben.

Software an sich macht Kommunikation und Kooperation nicht besser, die Menschen müssen das mit Hilfe der Software tun. Es geht um eine neue Art des Managements, der Kommunikation und Kollaboration, um ein dynamisches Set an Kommunikationsinstrumenten, die mit dem herkömmlichen Begriff „Medien“ nicht hinreichend beschrieben sind. Menschen, die sich an ihre E-Mail-Kommunikation klammern und gegenüber jeder Form von Web-2.0-Plattformen fremdeln, werden das nicht umsetzen. Das bekamen alle Unternehmen zu spüren, die als Vorreiter Social-Media-Plattformen einführten. Die Blockade beginnt bereits im Management, wo die Angst vor Kontroll- und Machtverlust umgeht. Und die Masse der Mitarbeiter lässt weder gern von alten Gewohnheiten noch sieht sie ein, sich den Risiken einer Dialogkommunikation auszusetzen, der sich die Chefs entziehen.

Die Menschen müssen Veränderung wollen

Enterprise 2.0 entsteht nicht schon dadurch, dass im Unternehmen Web 2.0 Werkzeuge verfügbar sind. Die ist bisher nicht in Sicht. Nicht nur die netzaffinen Führungskräfte der nächsten Generation sind für den Kulturwandel notwendig, sondern auch die Fachkräfte, die nicht mühsam auf den Gebrauch einer unternehmensinternen Social-Media-Plattform gedrillt werden müssen, sondern Lebenserfahrung aus dem eigenen Umgang mit dem Netz bereits mitbringen und den Nutzen sehen. Gewiss kann das die Politik nicht alleine richten, aber gefragt ist sie doch. Politiker, denen beim Thema Internet zwanghaft nur Vorratsdatenspeicherung und Überwachung einfällt, tragen Mitschuld an der negativen Einstellung. Da helfen dann auch Ausbaupläne für das Netz nicht. Auch 100 Gbit/sec am Rechner des letzten Deutschen würden nicht den Durchbruch bringen, solange Politik und Eliten nicht die Akzeptanz für die gesellschaftliche Veränderung vorleben, die mit dem Web 2.0 einher gehen.

Da kann Dieter Kempf, Präsident des Branchenverbands Bitkom, lange predigen. Die Netzpolitik gehöre mit ins Zentrum des nächsten Regierungsprogramms. Nicht zufällig findet sich unter den Forderungen der Wirtschaft neben Sicherheit und Datenschutz, dem Netzausbau und der Förderung von Start-ups auch die Modernisierung des Bildungswesens. Tatsächlich werden es Netzpolitiker nach den Ergebnissen der Bundestagswahl noch schwerer haben, sich igegen andere Interessen durchzusetzen. Die Wähler haben schließlich entschieden, dass ihnen ganz andere Dinge wichtig sind. Ihnen ist kaum vorzuwerfen, dass sie die Netzproblematik nicht sehen, geschweige denn verstehen, den Eliten und der Politik aber sehr wohl. Weit und breit ist ja niemand in Sicht, der den Bürgern die Welt erklärt, die sich in so kurzer Zeit so drastisch verändert hat, dass auch höhere Bildung und gestandenes Erfahrungswissen nicht Schritt halten helfen.

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