Dienstag, 28. Juni 2016

Das große Brexit-Manöver

„Streiten wir nicht länger über den Brexit. Die Briten sind raus, so traurig das ist. Streiten wir über unseren Traum von Europa! Darüber, was wir uns von der EU erhoffen.“ So beginnt heute ein Kommentar der „Zeit“, dem ich spontan zustimmen möchte – über unseren Traum von Europa zu diskutieren wäre an der Zeit.

Es wird nicht dazu kommen. Kein einziger der Protagonisten der Brexit-Abstimmung hat sich bisher dafür ausgesprochen, den Antrag nach Art. 50 zu stellen. Cameron hat die Abstimmung und die Folgerungen daraus zur innerbritischen Angelegenheit erklärt. Während sich in Europa die Häme breitmacht, die Briten seien desorientiert und hätten keinen Plan, legte der der britische Gesundheitsminister Jeremy Hunt eben diesen auf den Tisch. „Hunt will zweites Referendum oder Neuwahlen“ – so oder so ähnlich die Schlagzeilen, die von der Fehleinschätzung ausgehen, dass in London das politische Machtvakuum ausgebrochen sei.

Er will zuerst einmal verhandeln, er und dann entscheiden, ob der Austrittsantrag gestellt wird. Gibt uns Brüssel die Souveränität über unsere Grenzen zurück, könnten wir es uns noch einmal anders überlegen, so seine Botschaft. Zuerst einmal reden – das haben auch andere britische Politiker schon angedeutet. Und das gefällt allen, die Nachsicht mit den Briten predigen und den Rat erteilen: Nur nicht beleidigt reagieren!

Zunächst einmal reden – das klingt so urvernünftig. Nur, worum soll es dabei gehen? Aus der Sicht Hunts und der britischen Politik geht es um einen einzigen Punkt: Gebt uns die politische Souveränität zurück, dann bleiben wir! Es ist das alte Lied mit den Briten: Sie wollen die Vorteile des Binnenmarktes genießen, sich aber den damit verbundenen gemeinsamen Regeln nur nach Lust und Laune unterwerfen. Es geht um den Kern dessen, was in Europa unter dem Schlagwort „Europa der Bürger“ noch längst nicht weit genug entwickelt worden ist. Die Briten wollen ein Europa der Wirtschaft – damit Schluss!

Letztlich ist es ein Erpressungsmanöver, und der Brexit erweist sich als Schachzug in einem fiesen politischen Spiel. Ob das von vornherein so geplant war, ist völlig unerheblich. Die Förderer der Brexit-Kampagne (klammern wir die Rechtsextremisten einmal aus) hatten wohl eher mit einer knappen Entscheidung für den Verbleib gerechnet – auch mit diesem Pfund hätte man gut in die Verhandlungen mit der EU gehen können. So aber, diese Erkenntnis setzt sich langsam durch, ist es noch besser. Jetzt kann man die Panik der europäischen Wirtschaft und die Planlosigkeit der europäischen Politiker unmittelbar zur Erpressung nutzen: „Gebt uns, was wir wollen – dann bleiben wir. Bis auf weiteres.“

Was das Schlimmste ist: Sie könnten damit erfolgreich sein. So funktionierte europäische Politik immer. Nur dürfte Nachgiebigkeit dieses Mal der Selbstmord aus Angst vor dem Tode sein. Wenn die Briten mit dem Brexit-Manöver eine Premium-Mitgliedschaft im Binnenmarkt ohne Beiträge und Verpflichtungen herausholen, werden die Austrittskandidaten Schlange stehen.

Was bleibt ist dann allenfalls ein Europa der Wirtschaft, ein TTIP-Europa, in dem (da sollten sich auch Nationalisten keine Illusionen machen) die Regierungen immer mehr an Gestaltungsmöglichkeiten verlieren. Ein Europa, wie wir es uns vorstellen – ein demokratisches, liberales, soziales Europa … vergesst es!
Michael Bechtel

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