Dienstag, 28. Juni 2016

Das große Brexit-Manöver

„Streiten wir nicht länger über den Brexit. Die Briten sind raus, so traurig das ist. Streiten wir über unseren Traum von Europa! Darüber, was wir uns von der EU erhoffen.“ So beginnt heute ein Kommentar der „Zeit“, dem ich spontan zustimmen möchte – über unseren Traum von Europa zu diskutieren wäre an der Zeit.

Es wird nicht dazu kommen. Kein einziger der Protagonisten der Brexit-Abstimmung hat sich bisher dafür ausgesprochen, den Antrag nach Art. 50 zu stellen. Cameron hat die Abstimmung und die Folgerungen daraus zur innerbritischen Angelegenheit erklärt. Während sich in Europa die Häme breitmacht, die Briten seien desorientiert und hätten keinen Plan, legte der der britische Gesundheitsminister Jeremy Hunt eben diesen auf den Tisch. „Hunt will zweites Referendum oder Neuwahlen“ – so oder so ähnlich die Schlagzeilen, die von der Fehleinschätzung ausgehen, dass in London das politische Machtvakuum ausgebrochen sei.

Er will zuerst einmal verhandeln, er und dann entscheiden, ob der Austrittsantrag gestellt wird. Gibt uns Brüssel die Souveränität über unsere Grenzen zurück, könnten wir es uns noch einmal anders überlegen, so seine Botschaft. Zuerst einmal reden – das haben auch andere britische Politiker schon angedeutet. Und das gefällt allen, die Nachsicht mit den Briten predigen und den Rat erteilen: Nur nicht beleidigt reagieren!

Zunächst einmal reden – das klingt so urvernünftig. Nur, worum soll es dabei gehen? Aus der Sicht Hunts und der britischen Politik geht es um einen einzigen Punkt: Gebt uns die politische Souveränität zurück, dann bleiben wir! Es ist das alte Lied mit den Briten: Sie wollen die Vorteile des Binnenmarktes genießen, sich aber den damit verbundenen gemeinsamen Regeln nur nach Lust und Laune unterwerfen. Es geht um den Kern dessen, was in Europa unter dem Schlagwort „Europa der Bürger“ noch längst nicht weit genug entwickelt worden ist. Die Briten wollen ein Europa der Wirtschaft – damit Schluss!

Letztlich ist es ein Erpressungsmanöver, und der Brexit erweist sich als Schachzug in einem fiesen politischen Spiel. Ob das von vornherein so geplant war, ist völlig unerheblich. Die Förderer der Brexit-Kampagne (klammern wir die Rechtsextremisten einmal aus) hatten wohl eher mit einer knappen Entscheidung für den Verbleib gerechnet – auch mit diesem Pfund hätte man gut in die Verhandlungen mit der EU gehen können. So aber, diese Erkenntnis setzt sich langsam durch, ist es noch besser. Jetzt kann man die Panik der europäischen Wirtschaft und die Planlosigkeit der europäischen Politiker unmittelbar zur Erpressung nutzen: „Gebt uns, was wir wollen – dann bleiben wir. Bis auf weiteres.“

Was das Schlimmste ist: Sie könnten damit erfolgreich sein. So funktionierte europäische Politik immer. Nur dürfte Nachgiebigkeit dieses Mal der Selbstmord aus Angst vor dem Tode sein. Wenn die Briten mit dem Brexit-Manöver eine Premium-Mitgliedschaft im Binnenmarkt ohne Beiträge und Verpflichtungen herausholen, werden die Austrittskandidaten Schlange stehen.

Was bleibt ist dann allenfalls ein Europa der Wirtschaft, ein TTIP-Europa, in dem (da sollten sich auch Nationalisten keine Illusionen machen) die Regierungen immer mehr an Gestaltungsmöglichkeiten verlieren. Ein Europa, wie wir es uns vorstellen – ein demokratisches, liberales, soziales Europa … vergesst es!
Michael Bechtel

Dienstag, 31. März 2015

Kommunikation - die Achillesferse der Unternehmen

Kurzfassung meines Vortrags beim RWK Hessen am 25. März 2015

Die Medienwelt verändert sich und die Menschen mit ihr. Darum zerbrechen sich die Kom­munikationsverantwortlichen in den Unternehmen die Köpfe darüber, mit welchem Medien-Mix sie die Mitarbeiter weiterhin erreichen. Eine Diskussion, die am Kern des Problems vor­beigeht: Wie können Unternehmen ihre interne Kommunikation modernisieren, müsste die Frage lauten. Und die Antwort darauf ist Sache des obersten Management. Denn Kommuni­kation ist die Achillesferse fast aller Organisationen – und inzwischen wohl die wichtigste Bremse für Erfolg und Produktivität.

Wer in deutschen Unternehmen herumkommt, spürt es an allen Ecken und Enden. Wenn der Pro­duktmanager zehn Seiten braucht und es damit immer noch nicht schafft, dem Management ver­ständlich darzulegen, welchen Mehrwert die weiterentwickelte Maschine dem Kunden bringt und inwiefern sie das Unternehmen am Markt voranbringen – dann verursacht das wirtschaftlichen Schaden. Leute, die das alles wissen müssten, werden die Sache nicht richtig oder verspätet oder nur mit unnötig hohem Aufwand begreifen. Mit dem miserablen Briefing-Papier arbeitet das Marke­ting, die Werbung, der Vertrieb und der Texter für die Unternehmensmedien, und alle tun sich schwer. Das erklärt auch, warum landauf landab von den nobelsten Adressen deutschen High-Tech-Branchen schrottige Pressepapiere verbreitet und miserable Fachartikel in die einschlägigen Zeitschriften lanciert werden.

Da ist es ein lobenswerter Versuch, die Texter immer mal wieder zum Textworkshop zu schicken. Nützen wird es nicht viel, denn die sind der deutschen Sprache mächtig und wissen recht gut, wo­rauf es ankommt und wie ein brauchbarer Text auszusehen hätte. Nur haben Sie nur schon lange aufgegeben, gegen den Strom zu schwimmen. Sie sind zermürbt von vergeblichen Versuchen, Technikern verständliche Erklärungen abzuringen, von den tagtäglichen Niederlagen, wenn in den Freigabeschleifen Fachleute und Chefs aus gutem Deutsch wieder Techniker-Jargon machen und erklärende Bilder, Vergleiche und Beispiele für überflüssig erklären. In die Textworkshops müssten die Produktmanager. Das eine oder andere Unternehmen hat diesen Schluss auch schon gezo­gen. In die Textworkshops müssten diejenigen, die über Texte befinden – aber das wäre ein Sakri­leg, Abteilungsleiter und noch höhere Manager lassen so etwas nicht mit sich machen.

Kommunikative Ignoranz des Managements

Die Führungsriege der Wirtschaft steht in erster Linie dem Fortschritt der Unternehmenskommu­nikation im Wege. Was die Topmanager in ihren Reden von sich geben, hat mit Klartext und Ver­ständlichkeit nichts zu tun, ihre Interviews werden in der Autorisierungsschleife meist so glatt ge­schliffen, dass der inhaltliche Reibungswiderstand gegen Null tendiert. Über Sprache und über die Grundlagen des Austauschs zwischen Menschen haben Manager in Ausbildung und Berufspraxis wenig bis nichts gelernt. Das wäre nicht schlimm, wäre Sie sich dieser Tatsache bewusst und leg­ten die nötige Bescheidenheit an den Tag. Tatsächlich begreifen die meisten aber nicht einmal, welche strategische Bedeutung für den wirtschaftlichen Erfolg es hat, wie gut ein Unternehmen kommuniziert – nach innen wie nach außen.

Unternehmenskommunikation nach innen ist weit mehr als Mitarbeiterzeitung, Intranet, und das eine oder andere ergänzende Medium. 90 Prozent aller internen Kommunikation machen nicht die Kommunikationsspezialisten, sondern der Chef höchstselbst, seine Assistenten, die Abteilungslei­ter, Produktmanager, Qualitätsbeauftragte und und und – bis hin zum Meister und Vorarbeiter. Sie tun es mit Managementpapieren, Protokollen, E-Mails, mündlichen Anweisungen, Besprechungen und und und … die Verantwortlichen für die interne Kommunikation geht das nichts an, sie sollen sich um ihre Mitarbeiterzeitung kümmern. Und sie sind meistens froh, auf ihre medialen Zuständig­keiten beschränkt zu bleiben – der Job ist schwierig genug. 90 Prozent der Kommunikation machen Leute, die nicht wissen, was sie anrichten. Mehr als die Hälfte der Change-Projekte z. B. scheitern – nicht zuletzt an miserabler Kommunikation. Qualitäts- und andere Managementsysteme hängen in der Luft, weil den Leuten niemand jemals richtig er­klärt hat, warum das für sie und das Unternehmen gut ist. Der eine oder andere Artikel, den der Change-Manager und der QM-Beauftragte der Redaktion der Mitarbeiterzeitschrift in die Feder diktiert hat, wird es niemals richten. Erstens ist er nur so gut, wie der Stichwortgeber des Texters seiner Kommunikationsverantwortung gerecht wird – also meistens eher schwach. Zweitens und wichtiger: Gegen das, was in den Meetings, in den Teambesprechungen, Unterweisungen, Dienst­anweisungen, im E-Mail-Verkehr usw. kommuniziert wird, kommt das Medium ohnehin nicht an. Genauso wenig, wie die externe Kommunikation mit noch so wertvollen Druckwerken oder Image­broschüren gegen den Schaden ankommen, den diejenigen anrichten, die auf Beschwerdebriefe oder Anfragen antworten. Oder noch schlimmer: Die mit Kunden telefonieren.

Immerhin scheint die Einsicht im Schneckentempo zu wachsen. Prinzipiell sind Unternehmen lern­fähige Systeme, können sich Umweltveränderungen anpassen – wenn sie dazu gezwungen wer­den. Veränderungsdruck entsteht, wenn erprobte Vorgehensweisen offenbar nicht mehr zweckmä­ßig sind. An diesem Punkt sind wir längst, aber Einsicht ist bisher nur punktuell erkennbar. So schicken Unternehmen Mitarbeiter auch mal ins Telefontraining oder in Workshops „Wie schreibe ich eine gute E-Mail“ – aber extern, in der Kundenkommunikation, wo ein ROI erwartet wird. Um die Tonlage und kommunikative Qualität des E-Mail-Verkehrs im Inneren kümmert sich dagegen kaum jemand, obwohl schlecht-formulierte Botschaften Sand im Unternehmensgetriebe sein und ein schlechtes Unternehmensklima noch mieser machen können. Mir ist nur ein einziges Unternehmen bekannt, das Sprache und Kommunikation nach innen wie nach außen umfassend zum Thema eines regelrechten Change-Projektes gemacht hat – bezeich­nenderweise die Tochterfirma eines amerikanischen Unternehmens. Mit viel Mitteleinsatz und ex­terner Unterstützung versuchte die Unternehmensleitung, in Workshops sprachliche Standards verbindlich zu machen – in Richtung Verständlichkeit, Einfachheit, aber auch der gesamten Tona­lität. Dabei ging es letztlich um Werte – gegenseitiger Respekt, Wertschätzung, Hilfsbereitschaft und so weiter.

Hohe Korrelation mit wirtschaftlichem Erfolg

Bereits von einem Trend zu reden wäre kühn. „Die meisten Unternehmen unterschätzen immer noch, welche enorme Bedeutung die Qualität der Kommunikation im Unternehmen hat“, meint Dr. Jäger, Geschäftsführer der LVQ Business Akademie, die Qualitätsmanager ausbildet. Aber die Einsicht wachse, man sehe immer mehr, dass die interne Kommunikation verbessert werden müs­se, sagt er. Denn die ist nicht nur wichtig für funktionierende Prozesse, sondern ganz entscheidend für die Mitarbeiterzufriedenheit. Und diese wiederum ist einer der entscheidenden Schlüssel zum Unternehmenserfolg. Jäger untermauert dies mit Zahlen aus einer großangelegten Mitarbeiterbe­fragung, die das LQV im Rahmen des EU-Projekts Karla.net in Karosserie- und Lackierunterneh­men durchgeführt hat. Setzt man ihre Ergebnisse in Beziehung zum wirtschaftlichen Erfolg, sei die­se Korrelation ist sehr hoch. Das gute Mitarbeitergespräch, professionelle Ansprache und klare In­formationen schriftlich wie in den routinemäßigen Produktionsbesprechungen, in der Auftragskom­munikation usw. vermeidet Missverständnisse und Fehler. Darüber hinaus wirken sie auf die Moti­vation und die Stimmung.

Ein klares Thema für die Unternehmensführung. Die neue ISO 9001, die in diesem Jahr kommt, bringt da ein neues Verständnis: die Zuständigkeit der Geschäftsführung für alle erfolgsrelevanten Prozesse, also auch die Kommunikationsprozesse, wird eindeutig festgeschrieben. Man kann das weder auf einem QMB abwälzen, diese Funktion kennt die Neufassung des Standards gar nicht mehr, noch auf eine Medienabteilung. Der Zeitpunkt ist gekommen, die Diskussion über die strate­gische Bedeutung der internen Kommunikation und die Konsequenzen für die Unternehmensorga­nisation neu zu führen. Und dies auch auf dem Hintergrund, dass unter Schlagworten wie Industrie 4.0 oder Social Business die Frage im Raum steht, in welcher Weise neue Formen der Kommuni­kation auch die Hierarchien und Unternehmensstrukturen und die Formen der Zusammenarbeit im Unternehmen verändern können oder sollen oder müssen.

Aus dieser Diskussion sollten sich die Kommunikationsfachleute in den Unternehmen nicht heraus­halten, sondern ihre spezifische Verantwortung für sich reklamieren. Gute Kommunikation ist die zentrale Verantwortung der Geschäftsführung, es gibt ohne das keine erfolgreiche Unternehmens­führung. Aber die Verantwortlichen für Kommunikation sollten sich nicht darauf reduzieren, interne Dienstleister für Medienproduktion und Presseinformation zu sein. Das bleiben sie, aber wichtiger wäre die Aufgabe, unter der Verantwortung der Geschäftsführung Standards für gute Kommunika­tion zu setzen und als interne Audi­toren und Coaches an deren Qualität zu arbeiten. Mit der heuti­gen Ausstattung geht das nicht. Mehr Personal, mehr Etat – auch neue Qualifikationen werden notwendig sein. Das ist dann kein Thema mehr, wenn sich die Einsicht durchsetzt, wie strategisch wichtig für den Unternehmenserfolg die Qualität der Kommunikation wirklich ist.

Zielgruppenfragmentierung und neuer Medienmix

Erst auf diesem Hintergrund ist es dann wirklich sinnvoll, neben der personalen auch über die massenmediale Ansprache der Mitarbeiter nachzudenken, die ab einer bestimmten Unterneh­mensgröße natürlich unverzichtbar bleibt. Der vielbeschworene „neue Medien-Mix“ ist auf der Ba­sis der Sozialdaten der Belegschaft zu definieren, denn die Ungleichzeitigkeiten und Verwerfungen machen es praktisch unmöglich, heute Belegschaften noch als soziale Einheit anzusprechen. Dabei geht es nicht nur um die Veränderungen im Mediennutzungs-, Informations- und Kommuni­kationsverhalten und um eine junge Generation von Mitarbeitern, die nicht nur mit Computer und Internet aufgewachsen, sondern mit ihrem Smartphone verwachsen sind. Wir leben auch mit einer fortschreitenden Individualisierung, einer Verschiebung der Wertewelt. Die Gesellschaft und auch jede Belegschaft ist segmentierter denn je, und die Medien sind ein Spiegel dieser Vielfalt – zu der zu allem Überfluss eine wachsende ethnische und religiöse Vielfalt hinzutritt. Diese Welt existiert nicht mehr. Die Globalisierung hat die nationalen Grenzen durchlöchert, mit der Macht der Märkte die Staatsmacht zurückgedrängt und die Unternehmen, ja sogar die Arbeitnehmer den Bedingun­gen weltweiter Konkurrenzverhältnisse unterworfen. Die Digitalisierung führt dies zu Ende: Sie sprengt alle Fesseln von Datenaustausch, Information und Dialog. Sie verleihen dem Individuum einerseits mehr Autonomie und neue Möglichkeiten, sich einzubringen und zu inszenieren, auf der anderen Seite verursachen sie einen Verlust an informationeller Selbstbestimmung und Privatheit. Sie verlangen einerseits in der Wirtschaft nach anderen Formen der Zusammenarbeit und des Dia­logs, und stellen andererseits gewachsene Hierarchie und Strukturen in Frage. Immer verbreiteter ist einer kritischen Grundhaltung gegenüber medialen Informationen einerseits, ein fundamentale Unterhaltungsorientierung andererseits. Wie haben einen erheblichen Verlust an Glaubwürdigkeit generell der Medien, vor allem im Printbereich.

All das ergibt ein extrem komplexes Bild, das hier nicht weiter auszumalen ist. Für den betriebli­chen Medien-Mix heißt das: Die Macher sind in ähnlicher Verlegenheit wie die Zeitungsverleger. Was machen wir, wenn die Leute unser Produkt immer weniger kaufen und noch weniger lesen und ernst nehmen? Vor 20 Jahren galt noch: Mit einer gut gemachten Mitarbeiterzeitung macht man nicht viel falsch. Mittlerweile kann die Mitarbeiterzeitung alleeeenfalls noch als ein Standbein gelten, das aber alleine kaum trägt. Vor einigen Jahren ließ sich noch begründen, warum man mit dem Verzicht auf Social Media nicht viel falsch macht. Inzwischen macht wahrscheinlich eine Menge falsch, wer ganz auf digitale Kanäle verzichtet.

Für einen sinnvollen Medienmix gibt es weniger denn je Pauschalrezepte. Die soziologische Zu­sammensetzung der Belegschaft ist ebenso wichtig wie es Arbeitsbedingungen und Arbeitsweise des Unternehmens sind. Wer die Belegschaft nicht kennt, kann Sie keine Kommunikationspolitik und keine Medien entwickeln, die Identifikation mit dem Unternehmen und Verständnis für oder gar Einverständnis mit dem Handeln der Unternehmensführung fördern. Zielgruppenforschung muss sein. Wie in der externen Kommunikation sollten Entscheidungen für oder gegen bestimmte Me­dien oder Social-Media-Tool selbstverständlich auf deiner Zielgruppen-Demografie basieren. Im Unternehmen kann man sogar die Leute fragen, was sie persönlich bevorzugen und nutzen.

Das Ergebnis wird sein: Wir müssen, wenn wir der wachsenden Fragmentierung unserer internen Zielgruppen Rechnung tragen und eine ausreichende Reichweite erzielen wollen, unterschiedliche herkömmliche und digitale Plattformen bespielen. In vielen Unternehmen geht es heute durchaus ohne Mitarbeiterzeitung, auch wenn sich für sie noch eine beträchtliche potentielle Nutzergruppe findet. Die wird größer sein für ein buntes boulevardeskes Magazin mit Schwerpunkt Jubiläen, Mit­arbeiterfotos, Human-Touch-Geschichten und so weiter – und kleiner für eine Postille, die Informa­tion in den Mittelpunkt stellt. Als Instrument in Chance-Projekten oder in Krisensituationen werden beide von begrenztem Wert sein, da können sich die Macher abmühen, wie sie wollen.

Vieles spricht gegen die Mitarbeiterzeitung

Denn zum einen sinkt ganz generell die Reichweite von Printmedien, vor allem aber solcher, deren Lektüre Mühe macht, weil sie Information anstreben. Das ist auch eine Folge der wachsenden Un­terhaltungsorientierung der Menschen, die im Fernsehen um Information eher einen großen Bogen machen und Printmedium ebenso selektiv nutzen. Viel dramatischer noch wirkt sich aus, dass die meisten Menschen nicht mehr viel lesen wollen oder können, was nicht dadurch widerlegt wird, dass wenigen die Texte nicht lang genug sein können. Die Gründe reichen vom Zeitbudget für Mediennutzung bis hin zu veränderten Nutzungsgewohnheiten. In der jungen Generation geht es regelrecht um eine Kulturrevolution. Wir beobachten eine Verschiebung bei den grundlegenden Kulturtechniken – von der schriftlichen zur audioviduellen Kommunikation. Oder, wie Leseforscher seit Jahren diagnostizieren: Bei den heute 20jährigen haben wir einen Prozentsatz von nahezu 40 Prozent strukturellen Analphabeten, also Menschen, die Lesen und Schreiben für den Alltagsge­brauch zwar (mehr schlecht als recht) beherrschen, an längeren Texten mit womöglich komplexe­rem Inhalt aber scheitern.

Zum anderen haben es Mitarbeiterpostille besonders schwer, weil sie per se ein Glaubwürdigkeits­problem haben. Das haben sie um so mehr, je professioneller sie sich geben. Mit journalistischen Printmedien sind bestimmte kulturell bedingte Lesererwartungen verbunden. Boulevard und Yellow Press einmal ausklammert, werden an sie hohe Anforderungen hinsichtlich einer wahrheitsgemä­ßen und kritischen Berichterstattung gestellt. Aus dieser Falle gibt es kein Entrinnen, denn ein Un­ternehmensmedium kann nicht journalistisch agieren. Jeder Text unterliegt der Weisungshoheit von oben, alle möglichen Leute schreiben daran mit. Im Ergebnis ist der Widerspruch zwischen der beschriebenen und der erlebten Realität oft eklatant. Mitarbeiter dürfen gerne von sich erzählen, aber wo es problematisch wird, zählt die Perspektive der Unternehmensführung. Die Leute wissen, dass die langen Interviews mit dem höchsten Chef mangels echter kritischer Nachfrage eigentlich keine Interviews sind, sondern getarnte Statements. Und sie sehen, wo die Realität geschönt und die Probleme ausgeklammert sind. Das sehen sie mit Recht als Beleidigung ihrer Intelligenz an!

Besonders klug und hilfreich ist das alles nicht. Aber Unternehmen, wie sie heute sind, halten eine kritische unternehmensinterne Öffentlichkeit nicht aus, es zerreißt sie. Selbst wo die Unterneh­mensspitze so etwas will – gegen den Widerstand des mittleren Managements hält sie es nicht durch. Deshalb liegt darin eine große Chance, von der „journalistischen“ Print-Mitarbeiterpostille wegzukommen in Richtung audiovisueller Kommunikation. Das wäre nicht nur ein riesiger Schritt in Richtung auf die junge Generation, die nicht mehr in Handbuch nachliest, wie eine Software zu bedienen ist oder Soundbar und TV-Gerät zu verkabeln sind, sondern das entsprechende Video auf Youtube sucht. Und es auch findet! Man mag das feiern oder bedauern: Wir entwickeln uns in zu einer Gesellschaft, in der das gesprochene Wort und das Bild wieder einen extrem hohen Stel­lenwert hat – dem gilt es zu folgen. Nicht durch Unternehmensfernsehen (obwohl auch das inzwi­schen für große Unternehmen machbar und bezahlbar wäre), sondern durch die vielfältigen digita­len Verbreitungswege für Videos, Audios und Diashows.
Was oben über spezifische Nachteile des geschriebenen Wortes gesagt wurde, lässt sich an die­ser Stelle umkehren: Das geschriebene Wort lässt sich auf die Goldwaage legen – das Wort in Ra­dio, Film und Fernsehen ist flüchtig. Sich in ähnlich kritisch mit ihm auseinanderzusetzen können wenige, das erfordert hohe Konzentration und Aufwand. Das gesprochene Wort kann mit den ural­ten Mitteln der Rhethorik Einfluss auf Hirn und Emotionen ausüben, um zu überzeugen – bis über die Grenzen der Manipulation hinaus. Wenn dann auch das bewegte Bild und die Macht der Musik und die visuelle Präsenz einer starken Persönlichkeit hinzukommen, können sich die Menschen der Wirkung solcher Botschaften nur schwer entziehen.

Audiovisuelle Kommunikation und personale Unternehmensführung

Wer Menschen führen will, zumal durch Krisen und tiefgreifende Veränderungen, sollte sich daran erinnern. Mehr audiovisuelles Agieren des Spitzenpersonals könnte viel von dem zurückbringen, was Unternehmen heute fehlt: Das Element der personalen Führung. Mehr als die Hälfte der Change-Projekte scheitern, nicht zuletzt an mangelhafter Kommunikation. Der Kernman­gel fast immer: Es gibt eher zu viel als zu wenig mediale Aufklärung und Motivation – aber zu we­nig Führung. In Krisen und Change-Prozessen zählt nicht nur, was und wie etwas gesagt wird, sondern auch, wer etwas sagt. Das Wort des Vorstandschefs wiegt mehr als das des Abteilungs­leiters, denn er hat die Macht, es durchzusetzen. In hierarchischen Strukturen überzeugt das mehr als noch so starke Sachargumente. Kollektive brauchen Leitwölfe, und deren wichtigstes Medium ist die Rede, die engagierte persönliche Stellungnahme, nicht das vom Blatt oder Telepromter gelesene Statement. Die erste Garde der Manager muss sich freilich damit neuen Anforderungen stellen: Wirkliche Spitzenfunktionen werden wie in der Politik davon abhängen, ob je­mand vor Kamera und Mikrofon eine gute Figur macht.

Es ist erstaunlich wie wenig die neuen Möglichkeiten genutzt werden. Die technische Plattform dafür ist in vielen Unternehmen schon vorhanden, vielfach gibt es z. B. Intranet-Magazine. Aber das sind oft auch nichts anderes als ins Netz transportierte Mitarbeiterzeitungen: inaktuell, statisch, textlastig und dialogfeindlich. Es sind Textmedien, die alle technologischen Möglichkeiten des Net­zes viel zu wenig nutzen. Es braucht einen großen Anteil an Bild, Video, Aktion und Dialog. Und selbstverständlich muss, wo immer möglich, die gesamte Palette der Social-Media-Kanäle helfen, die Themen offensiv zu verbreiten. Die gibt es schon oder wird es in den nächsten Jahren geben müssen, wenn die Visionen von Social Business, Industrie 2.0, 3.0 oder 4.0 wirklich werden sollen.

Diese Entwicklung kommt: Nicht so schnell, wie es IBM und andere Social-Media-Software-Anbie­ter gerne hätten, aber schnell, als die meisten Manager das glauben möchten. Denen wird es un­heimlich, weil die offenen Kommunikationsformen unweigerlich ein Stück Kontroll- und Machtver­lust bedeuten. Viele Mitarbeiter sperren sich, weil sie alles Neue und Ungewohnte erst einmal ab­lehnen, aber zum Teil aber auch in dem Wissen, dass offene Kommunikation in der hierarchischen Welt des Unternehmens Risiken hat. Man sitzt mit seinen Aussagen und Aktivitäten auf dem Prä­sentierteller und kann von Chefs abgestraft und von Kollegen gemobbt werden. Dennoch: Die neuen Chancen sind einfach zu groß, um sie ungenutzt zu lassen. Prinzipiell sind Unternehmen lernfähige Systeme, können sich Umweltveränderungen anpassen – wenn sie dazu gezwungen werden. Veränderungsdruck entsteht, wenn erprobte Vorgehensweisen und Strukturen offenbar nicht mehr zweckmäßig sind. Neue Kommunikationsplattformen werden akzeptiert sein, wenn sie helfen, Unternehmensziele besser zu erreichen – den Nachweis müssen sie aber erst einmal er­bringen.

Alle diese Tools lassen sich per Smartphone oder Tablet nutzen, stehen also rund um die Uhr überall zur Verfügung. Neue Softwarelösungen haben den Zugang zu Netzinhalten vereinfacht und sich als unentbehrlichen Assistenten im Alltag etabliert: Die Apps sind der Zugang zu Computer­programm in der Cloud ebenso wie zur digitalen Version der Lieblingszeitung, sie verbinden mit so­zialen Netzwerken, bieten U-Bahn-Pläne oder Restaurantführer. Mobilität ist derzeit der Megatrend für Wirtschaft und Gesellschaft. Eine brandaktuelle Zahl, die letzte Woche veröffentlicht wurde: 40 Prozent des Traffics im Newsbereich wird heute bereits über mobile Endgeräte abgerufen. Die Unternehmen hängen hier der Entwicklung hinterher, selbst solche, die einen großen Teil ihrer Mitarbeiter mit Smartphone und Tablets in die Welt hinaus schicken. Wenn z. B. die ING-DIBa ihre Mitarbeiterzeitschrift „intern” als App auf dem iPad an, ist das großer Schritt in die richtige Richtung. Aber nicht, weil die Mitarbeiter das ganze jetzt zuhause oder auf Dienstreise auf ihrem Mobilgerät konsumieren können. Die Angebote der Mitarbeiterzeitung werden digital aufbereitet und ergänzt. Über eine Feedbackfunktion können die Leser direkt eine Stellungnahme an die Redaktion absetzen – das steht für Dialogorientierung. Einige Themen sind durch begleitende Videos, Audios und Animationen ergänzt. Das alles wird zusammengebunden durch eine animierte Einstiegsseite, von der aus die Mitarbeiter alle Unterseiten entdecken.

Die Kommunikationsfachleute fremdeln noch

Dass dies noch so selten stattfindet, liegt wohl mit an der Ignoranz der Managementelite gegen­über Fragen der Kommunikationspolitik – aber nicht nur. Die meisten Kommunikationsfachleute kamen als Journalisten aus der traditionellen Welt der Printmedien oder lernten ihre Metier in einem der vielen PR-Ausbildungsgänge, für die das 21. Jahrhundert noch nicht wirklich begonnen hat. Sie fremdeln mit den technischen Anforderungen angeblich „neuer Medien“. Sie halten sich fest an ihre mit ungeheurem Aufwand drei-, vier- oder sechsmal im Jahre produzierten Hochglanz-Magazine, die sich gut als Arbeitsnachweis eignen und in der Chefetage auf Wohlgefallen stoßen, zumal nicht wirklich nachgefragt wird, ob sie in der Zielgruppe ankommen.

Sehr viel schwieriger ist die Frage zu klären: Wie schaffen wir dann, die Erkenntnisse umzusetzen – auf einer Klaviatur sehr unterschiedlicher Medien zu spielen? Wie lassen sich die neuen Heraus­forderungen mit tendenziell sogar immer knapperen Mitteln bewältigen? Ein Minimum an Ressour­cen muss verfügbar sein, der Einzelkämpfer mit auf Schrumpfen angelegtem Redaktionsetat steht auf verlorenem Posten. Auf der anderen Seite: Nicht immer leisten die besonders üppig ausgestatteten Kommunikationsabteilungen unbedingt die effizienteste Arbeit. Das Problem der Mittelknappheit ist teilweise auch ein Problem fragwürdiger Schwerpunktsetzungen und uneffi­zienter Prozesse. Die wenig sinnvolle Trennung zwischen interner und externen Kommunikation sollte zugunsten einer integrierten crossmedialen Gesamtredaktion aufgegeben werden, denn die Schnittmenge der Themen ist groß. Eine crossmediale Themenplanung mit Hilfe eines modernen Planungstools könnte alle anfallenden Themen über alle externen wie internen Publikationskanäle wie z.B. Zeitungen, Websites, Magazine, Radio oder Social Media-Kanäle hinweg erfassen. Doppel- und Mehrfacharbeit würde reduziert.

Das löst gewiss nicht alle Probleme, allenfalls ein Anfang. Der wichtigste Schritt wäre ohnehin, dass die Verantwortlichen für die Kommunikation im Unternehmen ein neues Verständnis für ihre Verantwortung und ihre Aufgaben entwickeln.

Samstag, 30. November 2013

Lasst gut sein, Genossen ...

Gedanken am Vorabend der dritten Großen Koalition

Die dritte Große Koalition in der deutschen Geschichte wirft ihre Schatten voraus. Sie wird einigermaßen tun, wozu die meisten Deutschen die sie tragenden Parteien gewählt haben: Kleinere Schönheitsreparaturen vorzunehmen an der Fassade der Wirtschaftswunderlandes und ansonsten alles zu lassen, wie es ist. Der Zukunft des Landes wird es nicht gut tun.

"Die große Stagnation" titelt die englische Wochenzeitung Economist – in deutscher Sprache. Und in der Unterzeile heißt es: „Germany’s proposed new government is set to turn the motor of Europe into a slowcoach.“ Bekanntermaßen kritisiert das britische Magazin mit Sitz im Bankenzentrum Londons, das als eines der einflussreichsten Wirtschaftsmedien der Welt gilt, nicht erst seit gestern die deutsche Krisenpolitik. Regelmäßig tauchen in seinen Leitartikeln die Forderungen nach stärkerem finanziellen Engagement Deutschlands in der Euro-Zone: Schaffung von Euro-Bonds, gemeinsame Haftung von Staatsschulden und Zustimmung zu einer vollständigen Bankenunion.

Diesmal geht es um mehr: Die Analyse lässt kaum eine Schwachstelle der deutschen Innenpolitik aus – bis hin zu den maroden Autobahnbrücken. Man muss nicht die wirtschaftsliberale Meinungsrichtung teilen, um zu sehen, dass der Befund im Ganzen stimmt. Es gibt Grund, sich Sorgen zu machen am Vorabend der dritten Großen Koalition. Die beiden großen konservativen Politikströmungen finden einmal mehr zusammen. Beim ersten Mal half dies immerhin, die Erstarrung der Adenauer-Republik aufzubrechen und der neuen Ostpolitik den Weg zu bereiten. Die zweite Große Koalition unter Merkel tat nicht viel mehr, als die neoliberale Linie der Schröder-SPD weiterzuführen.

Wo ist die Politikwende der SPD?

Die vereinbarte dritte Zusammenarbeit von Union und Sozialdemokratie steht unter einem viel schlechteren Stern. Sie folgt der klaren Grundsatzentscheidung: Alles bleibt im Wesentlichen wie es ist – nur den Ärmsten im Land helfen wir mit den Mindestlohn 8,50 (vielleicht) flächendeckend ab 2018 und einigen Verbesserungen der Rente beim Überleben. Nicht, dass dies zu verachten wäre – nur zukunftsgestaltende Politik ist es nicht. Von einer Union, die kaum noch eigenständige Programmatik hat und im Wahlkampf nur versprach, die Steuern nicht zu erhöhen und den Haushalt zu konsolidieren, hatte niemand Zukunftsideen erwartet. Aber wo ist die Politikwende der SPD?

Klassische Industriepolitik statt Netzpolitik, Kohlekraftwerke statt neuer Energien fördern, nationalistische Wettbewerbspolitik statt europäischer Perspektive, Maut statt entschlossener Umgestaltung des Steuersystems und die Bildung fällt sowieso hinten runter! Von der Union über den Tisch gezogen? Solch oberflächliche Leitartikelbefunde führen weg vom Problem. Die SPD hat sich nicht durchgesetzt, weil sie nicht an neue Wege glaubt und keine Argumente hat. Die Alternativlosigkeit, mit der Merkel ihre Politik begründet, hat sich längst ins Unterbewusstsein der Sozialdemokraten eingefressen. Sie haben längst das nationalistische Dogma von der Wettbewerbsfähigkeit verinnerlicht, wettern gegen die mafiösen Machenschaften der Banken und die Menschenverachtung der Wirtschaftslobby in dem Gefühl, dagegen im Grund eh nicht viel tun zu können. Da kommt die Verweigerungshaltung den anderen konservativen Partei gerade recht, um das Gesicht zu wahren.

Das Problem der SPD ist erstens ein demografisches, und zweitens ein allgemein-menschliches. Das demografische besteht darin, dass die Hälfte der SPD-Mitglieder über 60 Jahre alt ist und die Welt nicht mehr versteht – wie auch die meisten Funktionäre und Mandatsträger, für ihre Wähler gilt vermutlich nicht viel Anderes. Das allgemein menschliche Problem besteht darin, dass es den Deutschen immer noch recht gut geht, auch nachdem die Masse seit vielen Jahren mit sinkendem Wohlstand die Wettbewerbsfähigkeit der deutschen Wirtschaft und den Reichtum einer Minderheit subventioniert hat. Sie möchten erstens, dass das so bleibt und zweitens, dass Deutschland weiterhin Wirtschaftsmacht und den meisten anderen Nationen überlegen bleibt. Dann hat noch der Hartz-4-Empfänger immerhin das stolze Gefühl, etwas Besseres zu sein als der Grieche, der Italiener oder gar die Leute vom Balkan. So wurde schon im Kaiserreich Politik gemacht, und es funktioniert auch heute noch – der Doppelpass ändert nichts daran.

Nichtstun ruiniert Chancen

Da unterscheidet sich die SPD nicht allzu sehr von der Union, und Parteien machen nun einmal Politik für ihre Mitglieder und die potenzielle Wählerschaft, die ganz ähnlich denkt und fühlt. Demokratietheoretisch ist das nicht zu beanstanden. Leider führt es dazu, dass Sozialdemokraten sich jetzt daranmachen, gemeinsam mit der Union die Entwicklung Europas zu bremsen, es vielleicht komplett zu ruinieren – die einzige Chance, die wir hätten, bevor uns China, USA, Sowjetunion als Wirtschafts- und Handelsnation plattmachen. Gemeinsam mit der Union kehren sie die Energiewende um, bremsen die Klimapolitik, ebenso die Netzpolitik und gehen weitere Schritte in Richtung Überwachungsstaat.

Politikwende funktioniert offenbar kaum über Aufklärung und rationale Politikgestaltung, sondern als Notoperation im Gefolge der unweigerlich heraufbeschworenen Krisen, falls es dann nicht zu spät ist. Den vielen, die sich aufklärerisch mühen in der SPD, den vielen Kritikern, die sich abarbeiten an der guten alten Tante SPD, von der sie im Grunde ihres Herzens mehr erwarten, muss irgendwann klar werden, dass sie einen halbtoten Gaul wieder zu dem stolzen, starken Ross machen wollen, das es einstmals war. Das wird nicht funktionieren.

Diese Partei hatte nicht per Zufall einen in der Wolle gefärbten Neoliberalen zum Kanzlerkandidaten gemacht. Und Gabriel macht nun weiter, wo Schröder aufgehört hat. Vielleicht sind 150 Jahre Sozialdemokratie wirklich genug. Denn die junge Garde von Sozialdemokraten, die noch radikal denken und eine Wende herbeiführen könnten, ist so schwach, dass es wehtut, sie anzuschauen. Eine neue politische Kraft wird gebraucht.

Samstag, 23. November 2013

Social-Media-Skepsis bremst Innovation in den Unternehmen

Netzpolitik ist ein Thema, das dem Bürger nichts sagt und den meisten Politikern auch nicht. Niemand fühlt sich berufen, die komplizierte Materie auch nur so zu formulieren, dass sie verständlich wird. Das sollte sich ändern, denn die verbreitete Ignoranz gegenüber Social Media bremst die Entwicklung von Social Business und Industrie 4.0 in den Unternehmen – das könnte sich böse rächen.

„Facebook-Nutzer fühlen sich einsam und frustriert“, titelte Focus. „Nutzer, die häufig im Netzwerk unterwegs und, werden schnell dick und machen mehr Schulden mit ihren Kreditkarten als normale Konsumenten“, so eine Meldung, mit der Forscher einer völlig unbekannten Universität in der amerikanischen Provinz hierzulande zu kurzlebiger Publicity kam. Wie seriös solche Meldungen sind, fragt kaum ein Journalist, passt sie doch vorzüglich in sein eigenes Weltbild. Social Media ist Teufelszeug, das journalistisches Selbstverständnis ankratzt und auch noch die Arbeitsplätze in den Redaktionen bedroht. Menschlich verständlich also, dass der Focus der Medien mit den Stichworten unzureichender Datenschutz, NSA-Spionage, illegale Downloads, Mobbing, Abzocke und Betrügereien im Netz ziemlich abschließend beschrieben ist.

Bei der Kundschaft kommt das gut an, denn mit den immer noch als neu geltenden Kommunikationswegen fremdeln die Deutschen. Bei der Internetnutzung ganz generell landet Deutschland noch auf einigermaßen vorderen Plätzen der fast 200 Staaten dieser Welt, auch wenn selbst einige Länder, die wir als Entwicklungsländer sehen, auf dem einen oder anderen Gebiet vorbeiziehen. Trübselig kann stimmen, was die Leute mit ihrem inzwischen meist vorhandenen Breitbandanschluss machen. Sie kaufen bei Amazon, überweisen online und schreiben E-Mails. 46 Prozent verweigern sich nach eigener Aussage dem sozialen Web. 42 Prozent der Internetnutzer verfassen nach einer Eurostat-Erhebung Mitteilungen in sozialen Netzwerken, beim europäischen Spitzenreiter Portugal liegt der Anteil bei 75 Prozent. Deutschland bildet zusammen mit Tschechien und Frankreich, wo 35 beziehungsweise 40 Prozent der Surfer auf Facebook, Google+, Twitter und Co. aktiv sind, das Schlusslicht bei der Nutzung der sozialen Medien.

Kulturell bedingtes Defizit

Skepsis und Ablehnung ist nicht Schuld der Medien. Die Deutschen eint so etwas wie eine kulturell geprägte kollektive Wahrnehmung, Journalisten unterscheiden sich da kaum von Lehrern, Maschinenbauingenieuren oder Juristen. Wenn Zeitgenossen, die als Intellektuelle gelten, über den Tsunami der Belanglosigkeiten in den Sozialen Netzwerken salbadern, mit dem sie jede Berührung meiden, müssen sie nicht fürchten, sich ob ihrer Ignoranz zu blamieren. Die Unwissenheit reicht bis dorthin, wo angeblich die Zukunft gemacht wird – in die Politik. Man könnte schmunzeln darüber, dass Volksvertreter, die mit netzaffinen Bürgern über entsprechende Wege kommunizieren, immer noch Paradiesvogelstatus haben. Leider ist es aber auch Indiz dafür, dass die politische Klasse die neue technische Revolution nicht richtig erfasst hat.

Die netzpolitische Bilanz der letzten Bundesregierung gilt zu recht als Desaster. In den vier Jahren, in denen SocialMedia-Plattformen wie Facebook und Twitter ihren Durchbruch erlebten, mit Tablets und Smartphones das mobile Internet zum Massenmarkt wurde, das Streaming seinen Platz im digitalen Medienangebot eroberte, Cloud Computing und Big Data zu großen wirtschaftlichen wie politischen Schlagworten wurden – in diesen vier Jahren gelang hierzulande nur die Durchsetzung des „weltweit sinnlosesten Internetgesetzes“ (Sascha Lobo), des Leistungsschutzrechts. Bei der Infrastruktur ist Deutschland weiter zurückgefallen. Andere Länder haben in dieser Zeit z. B. mit Milliardenförderung die Glasfasernetze vorangebracht, in der Erkenntnis, dass die Netzbetreiber das nur schaffen, wenn sie sich auf so schädliche Weise wie durch Aufkündigung der Netzneutralität zusätzliche Einnahmen verschaffen.

Infrastruktur kümmert vor sich hin

Die Politik bewegt sich in Schlagworten und lässt die Infrastruktur vor sich hin kümmern. Bei der Breitbandvernetzung landet Deutschland nach dem Jahresreport der Internationalen Fernmeldeunion gerade noch unter den ersten zehn, beim mobilen Internet aber mit Platz 40 weit abgeschlagen noch hinter Kasachstan. Die sich anbahnende Große Koalition verspricht ein Programm, um die Breitbandvernetzung voranzubringen – die angepeilte Versorgung mit 50 Mbit/s bis 2018 entspricht schon jetzt nicht mehr dem Stand der Dinge und zur Finanzierung gibt es kein Wort. Die einmal angepeilte Summe von einer Milliarde pro Jahr, ohnehin viel zu zaghaft, ist aus den Koalitionsplänen verschwunden.
Wie passt das zu Sätzen wie diesen? „Deutschland muss Vorreiter der Industrie 4.0 sein, denn wir bauen auf eine starke Industrie mit breiter Wertschöpfung“, sagt Christiane Krajewski, vor der Wahl Mitglied im Kompetenzteam von Peer Steinbrück. „Deutschland wird dadurch seine Führungsrolle im produzierenden Gewerbe behaupten und ausbauen“, heißt es in einem gemeinsamen Antrag der Fraktionen von CDU/CSU und FDP vom Juni 2013. Die deutsche Ausrüsterindustrie soll weiter als Leitanbieter für intelligente Produktionstechnologien den Weltmarkt anführen. Als entscheidendes Stichwort dafür gilt in der Politik der Begriff „Industrie 4.0“: Sie gilt als Ausgangspunkt für die Schaffung neuer intelligenter Produkte, die „u.a. durch die Verknüpfung mit wissensintensiven Dienstleistungen mit hohem Mehrwert und hoher Attraktivität für Kunden und Nutzer verbunden sind. Ziel ist es, neue Leitmärkte zu gestalten und zu bedienen“. Das Thema Social Media taucht allenfalls in negativen Zusammenhängen auf, mit Industrie 4.0 bringt man das gar nicht zusammen. Offenbar operieren Menschen, die eigentlich steuern und gestalten sollen, mit nur halbwegs verstandenen, für den Bürger unverständlichen Schlagworten.

Industrie 4.0 rein technisch begriffen

Der Begriff Industrie 4.0 ist Chiffre für die vierte industrielle Revolution, die bereits ihren Lauf nimmt. Eine Reihe technischer Entwicklungen treffen mit heftigen Auswirkungen zusammen: Im sogenannten Internet der Dinge werden reale Produkte oder Produktionsverfahren per Netzwerk verbunden und tauschen eigenständig Daten aus. Dramatisch wird dies dank eines Entwicklungssprungs der Sensorik. Immer mehr und intelligentere „Fühler“ häufen Datenberge auf über den Zustand einer Maschine und ihre Umwelt. Intelligent bedeutet: Die Sensoren übermitteln nicht nur elektronische Signale, sie können miteinander kommunizieren, aus der Fülle der Daten Schlussfolgerungen ziehen und an zentrale Steuereinheiten weiterreichen. Fertigungsmaschinen können so benötigte z. B. Materialien selbstständig aus dem Lager anfordern und ggf. über das Internet beim Zulieferer nachordern.

Dabei fallen so unvorstellbare Datenmengen an, dass sie mit herkömmlichen relationalen Datenbanken und Statistik- und Visualisierungsprogrammen unmöglich zu erfassen, zu speichern und auszuwerten sind. Ein weiteres Stichwort heißt daher „Big Data“: die Analyse der Datentsunamis nach neuartigen mathematischen Verfahren, mit denen sich sich Berechnungen parallelisieren und auf mehrere Rechner verteilen lassen. Nur so können mit atemberaubender Geschwindigkeit Schlussfolgerungen von höchst praktischer Bedeutung generiert werden. Bei zeitkritischen Prozessen wie der Betrugserkennung in Echtzeit oder der Sofortvermarktung über mehrere Kanäle hinweg braucht es die Echtzeitanalyse, um einen nachweisbaren Vorteil für das Unternehmen zu erzielen. Unternehmen auf der ganzen Welt können durch Big Data den Service für ihre Kunden verbessern und die betrieblichen Abläufe optimieren.

Alles dies zusammen führt zu einer neuen Stufe der Organisation und Steuerung der Wertschöpfungskette über den Produktlebenszyklus hinweg - von Konzeption und Design des Produkts über die Fertigung bis hin zu Kundendienst und Rücknahme bzw. Recycling. Den Unternehmen erwachsen ganz neue Möglichkeiten, ihre Tätigkeit zu optimieren – unter Kosten- und Effizienzgesichtspunkt, aber auch im Sinne von mehr Flexibilität. Blitzschnell lassen sich Fertigungen einer schwankenden Nachfrage anpassen, Produkte und Dienstleistungen mühelos auf immer individuellere Kundenwünschen einstellen bis hin zu einer industriellen Einzelanfertigung.

Ohne menschliche Arbeit geht nichts

Ein Thema also, bei dem Wirtschaftslenker und Politiker gerne ins Schwärmen kommen. Leider vergessen viele ein unverzichtbares Element: Wenn Maschinen kommunizieren und vieles eigenständig regeln, wird der Mensch nicht überflüssig. Industrie 4.0 wird nicht die menschenleere Fabrik bringen. Die viel beschworenen Cyber-Physische-Systeme (CPS) verbinden die virtuelle Cyberwelt nicht nur mit Objekten in der real-physischen Welt, sondern in letzter Instanz mit Menschen, ohne deren Richtungsentscheidungen das Zusammenspiel von Maschinen und Anlagen jedenfalls noch nicht vorstellbar ist. Erst diese Verbindung schafft jene dynamischen, echtzeitoptimierten und sich selbst organisierenden Wertschöpfungsnetzwerke, die sich nach Kosten, Verfügbarkeit und Ressourcenverbrauch optimieren lassen.

Produktionsarbeit wird auch in Zukunft von menschlicher Arbeit geprägt sein. Diese kann aber nicht in herkömmlicher Weise über hierarchisch gestaffelte Befehlsketten eingebunden werden - das wäre viel zu langsam und mit viel Reibungsverlust verbunden. Wenn Social-Media-Funktionalitäten durchgängig für kooperative betriebliche Entscheidungen genutzt werden, können – besser gesagt: müssen sich interaktive Führungsmethoden entwickeln, die den Mehrwert mobiler Informations- und Kommunikationstechnik erschließen. Nur so werden die menschlicher Sinneswahrnehmungen ausgeschöpft, die den Informationsfluss technischer Sensoren durch Informationen aus dem Umfeld ergänzen. Und nur auf dieser Grundlage ist das „PatchWork“ als neuer Form hochflexibler, zeitlich, räumlich und inhaltlich verteilter Arbeit denkbar, das Multi-Job-Verhältnisse, eine sinnvolle Nutzung von Leerlaufzeiten und bedarfsgerechte „Arbeitszeit-Patches“ ermöglicht.

Neue Formen von Kommunikation und Kooperation

„Der Einsatz von unternehmenseigener Social Software“, heißt es im BVDW-Leitfaden Enterprise 2.01 dient vor allem der Schaffung dialogischer, transparenter und inklusiver Prozesse, die eine Organisations- und Führungskultur ermöglichen, mit deren Hilfe bisher verborgene Effizienz-, Wissens- und Innovations­ressourcen zur Steigerung der Unternehmensperformance nutzbar gemacht werden können.“ Social Business erhöhe die Produktivität und Effizienz der Mitarbeiter und es beschleunige Innovationen, heißt es in einem Untersuchungsbericht des IBM Institute for Business Value. Das bestätigt auch eine Studie von McKinsey, wonach sich durch Social Business Produktivitätsverbesserungen von 3 bis 11 Prozent ergeben.

Software an sich macht Kommunikation und Kooperation nicht besser, die Menschen müssen das mit Hilfe der Software tun. Es geht um eine neue Art des Managements, der Kommunikation und Kollaboration, um ein dynamisches Set an Kommunikationsinstrumenten, die mit dem herkömmlichen Begriff „Medien“ nicht hinreichend beschrieben sind. Menschen, die sich an ihre E-Mail-Kommunikation klammern und gegenüber jeder Form von Web-2.0-Plattformen fremdeln, werden das nicht umsetzen. Das bekamen alle Unternehmen zu spüren, die als Vorreiter Social-Media-Plattformen einführten. Die Blockade beginnt bereits im Management, wo die Angst vor Kontroll- und Machtverlust umgeht. Und die Masse der Mitarbeiter lässt weder gern von alten Gewohnheiten noch sieht sie ein, sich den Risiken einer Dialogkommunikation auszusetzen, der sich die Chefs entziehen.

Die Menschen müssen Veränderung wollen

Enterprise 2.0 entsteht nicht schon dadurch, dass im Unternehmen Web 2.0 Werkzeuge verfügbar sind. Die ist bisher nicht in Sicht. Nicht nur die netzaffinen Führungskräfte der nächsten Generation sind für den Kulturwandel notwendig, sondern auch die Fachkräfte, die nicht mühsam auf den Gebrauch einer unternehmensinternen Social-Media-Plattform gedrillt werden müssen, sondern Lebenserfahrung aus dem eigenen Umgang mit dem Netz bereits mitbringen und den Nutzen sehen. Gewiss kann das die Politik nicht alleine richten, aber gefragt ist sie doch. Politiker, denen beim Thema Internet zwanghaft nur Vorratsdatenspeicherung und Überwachung einfällt, tragen Mitschuld an der negativen Einstellung. Da helfen dann auch Ausbaupläne für das Netz nicht. Auch 100 Gbit/sec am Rechner des letzten Deutschen würden nicht den Durchbruch bringen, solange Politik und Eliten nicht die Akzeptanz für die gesellschaftliche Veränderung vorleben, die mit dem Web 2.0 einher gehen.

Da kann Dieter Kempf, Präsident des Branchenverbands Bitkom, lange predigen. Die Netzpolitik gehöre mit ins Zentrum des nächsten Regierungsprogramms. Nicht zufällig findet sich unter den Forderungen der Wirtschaft neben Sicherheit und Datenschutz, dem Netzausbau und der Förderung von Start-ups auch die Modernisierung des Bildungswesens. Tatsächlich werden es Netzpolitiker nach den Ergebnissen der Bundestagswahl noch schwerer haben, sich igegen andere Interessen durchzusetzen. Die Wähler haben schließlich entschieden, dass ihnen ganz andere Dinge wichtig sind. Ihnen ist kaum vorzuwerfen, dass sie die Netzproblematik nicht sehen, geschweige denn verstehen, den Eliten und der Politik aber sehr wohl. Weit und breit ist ja niemand in Sicht, der den Bürgern die Welt erklärt, die sich in so kurzer Zeit so drastisch verändert hat, dass auch höhere Bildung und gestandenes Erfahrungswissen nicht Schritt halten helfen.

Freitag, 22. November 2013

Ein Nachruf auf die Tageszeitung, wie wir sie liebten
Journalismus stand wirtschaftlich noch nie auf eigenen Füßen. Er ist eben nicht nur ein Phänomen der bürgerlichen Emanzipation, die in liberalen und demokratischen Verhältnissen mündete. Untrennbar damit verbunden ist die andere Seite der Medaille: das Geschäftsmodell Tageszeitung. Und das verdankt sich der Entwicklung lokaler, regionaler und nationaler Massenmärkte, in denen die werblichen Zugänge der Produzenten zu ihren Kunden ein knappes und damit teures Gut waren. Selbst bester Journalismus kann das nicht ins Internet-Zeitalter herüber retten. Wenn hochwertiger Journalismus für unsere Gesellschaft und wichtig bleibt, muss diese für eine Finanzierungsgrundlage sorgen. Der Markt wird es nicht tun.
Es muss auf einem Zeitungskongress in der ersten Hälfte des vergangenen Jahrzehnts gewesen sein. Ich sehe den Kollegen noch vor mir – seinen Namen habe ich vergessen. „Die Zeitung wird es immer geben, weil man mit einem Computer auf der Terrasse keine Wespe totschlagen kann.“ Der Beifall durfte tosend genannt werden. Kein Mensch wollte sich ernsthaft auf den Gedanken einlassen, vom Internet könnten Gefahren für die blühende Printmedienlandschaft ausgehen.
Jenseits der Illusionen
Viele Zeitungskongresse später liegt das Kind im Brunnen. Nach den ersten spektakulären Zeitungspleiten sind die Angehörigen der Branche um manche Illusion ärmer, was aber nicht reicher an nüchterner Einschätzung der Realität. Verstanden haben die meisten, dass mit dem Rennen um die exklusive Nachricht kein Blumentopf mehr zu gewinnen ist – nicht einmal im Lokalen. „Vielleicht ist die Zeitungskrise eher als Nachrichtenkrise zu sehen, die offline wie online wirkt: das Ende statischer Berichterstattung“, treibt Sascha Lobo den Gedanken auf die Spitze. Und es ist ja, auch wenn es als Analyse nicht reicht, durchaus etwas dran: Wenn Barak Obama selber twittert, er habe die Wahl gewonnen hat, sieht jedes Nachrichtenmedium alt aus. Nachrichten als Prozess statt Nachrichten vom Vortag – auch das will finanziert sein.
Um zu wissen, wohin die Reise geht, ist es hilfreich, einen Blick zurück zu werfen. Wo kommen die Tageszeitungen her? Bezeichnend für unser der geschichtsblindes Zeitalter, dass niemand diese Frage stellt. Wo es jetzt wieder hinzugehen scheint, hat einmal alles angefangen: Im Zeitalter der Aufklärung bis weit in 19. Jahrhundert hinein war Journalismus der brotlose Nebenerwerb von Amateuren. Die hätten gerne auch ihr Auskommen damit gehabt, aber weil es Geld nur wenig gab, nahmen sie gerne auch literarisches Renommé, politischen Einfluss und öffentliche Aufmerksamkeit. Das Interesse an der periodischen Presse war zunächst eine Sache des gehobenen Bürgertums, der gebildeten Stände – zu denen sich später allmählich aus die Elite des vierten Standes gesellten.
Presseprodukte im Abonnement waren teuer. Und so gab es Ende des 18. Jahrhunderts in den größeren Städten Lesegesellschaften, wohin sich interessierte Bildungsbürger begaben, um sich über die Zeitläufte auf dem Laufenden zu halten. Die Mainzer Lesegesellschaft bezog um 1790 stolze 24 politische Zeitungen, 23 gelehrte Blätter und 41 sonstige Periodika.
Die kommerzell-publizistische Mixtur Tageszeitung
Zum Massenmedium wurde die Zeitung, als der Staat die Idee aufgab, die Nachfrage von Industrie und Handel nach Werbemöglichkeiten per Anzeigenmonopol für die häufig staatlichen lokalen Anzeigeblätter („Intelligenzblätter“) in seine Kassen zu lenken. An deren Stelle treten die Generalanzeiger-Zeitungen, allen voran der 1845 in Leipzig erschienene „General-Anzeiger für Deutschland“, die Anzeigenerlöse wurden zur Haupteinnahmequelle. Weil gerade auch Papierpreise und Druckkosten sanken, wurden die Blätter oft kostenlos oder gegen ein kleines Zustellgeld abgegeben. Denn je größer Verbreitung und Reichweite, desto zahlreicher wurden die Inserenten. Genau deshalb präsentierte man sich auch als überparteilich und politisch neutral, als „Lokalanzeiger“ mit ausführlicher örtlicher Berichterstattung, lokalen Anzeigen und immer mehr unterhaltenden Elemente wie Fortsetzungsroman und Erzählungen.
Die übrigen Presse aber lernte schnell. Auch die Verbands- und Parteizeitungen, die politischen Kampfblätter kamen in den Genuss des rasch wachsenden Werbemarktes. Bald verzichtete kaum ein Periodikum noch auf die Einnahmequelle Anzeigen. Ende des 19. Jahrhunderts gab es in Deutschland schon rund 3500 Zeitungen. Einen weiteren Schub brachte Anfang des 20. Jahrhunderts der Erfolg der neuen Boulevardpresse. Die elektronischen Medien Radio und später das Fernsehen beeinträchtigten die Reichweiten der Printmedien nicht – brachten sie doch nur knapp bemessene und darum teure Werberäume und kaum publizistische Konkurrenz.
Wie viel Anteil hat der professionelle Journalismus am Erfolg der Tageszeitungen? Schwer zu sagen, realistisch gesehen dürfte der Beitrag begrenzt gewesen sein. Journalismus war bald mehr, bald weniger wichtiger Teil der Mischung, die das Modell Tageszeitung ausmachte. Die Leser haben nie die Gestehungskosten für journalistische Inhalte gezahlt. Wofür sie einige Groschen hinzulegen geneigt waren, war die informativ-unterhaltsame Mixtur aus Anzeigen, Nachrichten aus der großen weiten Welt, Lokalberichten, bunten Lesegeschichten, behördlichen Mitteilungen und und und. Und der Nutzwert des Papiers zum Einwickeln, Fensterputzen und Ofenanzünden kam noch obendrauf.
Rezepte gibt es nicht
Deshalb ist einleuchtend, dass der Journalismus, ob als Qualitäts- oder als Entertainmentjournalismus, das Geschäftsmodell Tageszeitung nicht retten kann, wenn die restlichen Anteile der Mischung wegfallen oder an Attraktivität verlieren. Die Idee, dass eine ausreichende Zahl von Menschen überzeugt werden könnte, für die Oberheadkosten von Qualitätsjournalismus zu zahlen, ist recht weltfremd. Die wenigsten Leser sind in der Lage, sorgfältige journalistische Arbeit von gutem PR-Handwerk zu unterscheiden. Information und Unterhaltung sind kein knappes Gut mehr, sondern ein Tsunami, der die Aufnahmekapazität der meisten Menschen hoffnungslos überfordert.
Und deshalb sind die menschlich verständlichen Forderungen der um ihre Zukunftshoffnungen betrogenen Journalisten und ihrer Verbandsvertreter fernab jeder Wirklichkeit. Sie verlangen von den Verlegern, zu investieren und unternehmerisch kreativ zu sein, um „die Zeitung“ als Synonym für qualitativ hochwertigen Journalismus zu retten – ob in gedruckt der digitaler Form. Die Verleger haben keine Rezepte, heißt es anklagend. Richtig, nur die Journalisten auch nicht. Weil es sie nicht gibt. Weil ein ähnlich zugkräftiger Content-Mix, wie es neudeutsch heißt, online nicht zu reproduzieren und deshalb im Netz ein Zubrot, aber kein voller Ersatz für das Anzeigeneinkommen besserer Printzeiten zu erzielen ist. Schon deshalb, weil das Online-Werbeaufkommen sich auf eine ständig wachsende Zahl von Internetkanälen aufteilt.
Die Zukunft des Journalismus
Was wird also aus der Tageszeitung als Gattung? Es wird sie wohl, finanziert über steigende Copy- und App-Preise als Luxusmedium für die Älteren, die Gebildeten und die Wohlhabenden noch eine Weile geben. Die Frage ist, wie lang noch vom Massenmedium Zeitung gesprochen werden kann. Am längsten wohl noch bei dem einen oder anderen überregionalen Blatt. Nicht mehr allzu lange im Lokalen, obwohl sich dort eine ganze Reihe von Redaktionen mit bewundertswerter Kreativität und großer Entschlossenheit gegen die Entwicklung stemmen. Die Overheadkosten und Profiansprüche ihrer Unternehmen lassen ihnen kaum eine Chance. Es sieht danach aus, dass der generelle Trend in Richtung billig produzierter, PR-dominierten Lokalmedien geht, in denen für teure Journalismus kaum mehr Platz ist. Die andere Seite dieser Entwicklung ist die Tatsache, dass Freiräume für neue Online-Lokalmedien entstehen – und für Journalisten, die Leidenschaft und nicht Gewinnstreben in diesen Beruf treibt.
Das wird aber für eine moderne Massengesellschaft nicht reichen. Wie ist unter diesen Bedingungen massenwirksamer hochwertiger Journalismus in der Breite noch möglich? Diese Frage lässt sich vielleicht in einigen Jahren ernsthaft diskutieren – dann wenn die letzten Selbsttäuschungen und Illusion in der Branche dahin sind, die Verleger aufgehört haben, ihr Privateigentum an Medien zur Voraussetzung von Demokratie und Freiheit zu erklären und die Politik wirklich begriffen hat, dass sie ohne das aufklärerische Potential eines professionellen, freiheitlichen Grundwerten verpflichteten Journalismus den letzten Rest an Glaubwürdigkeit verliert.